Digitale Wirtschaft

Was heute unter den Stichworten „Industrie 4.0“, „Smart Factory“, „intelligente Produkte, Prozesse und Verfahren“, „Big Data“, „Internet der Dinge“ etc. verhandelt wird, ist ein neuer Rationalisierungstyp, der sich die Leistungen und Fortschritte der „Künstlichen Intelligenz“ zunutze macht. Seine technische Basis sind cyber-physische Systeme, die die virtuelle Computerwelt mit der physischen Welt vernetzen. Smartphones mit den passenden Apps, Sensoren an allen Maschinen, die in Echtzeit Daten generieren, eine Cloud, die die Datengebirge verwaltet und auswertet und eine Software, deren Algorithmen eigenständig Produktions- und Dienstleistungsprozesse steuern, optimieren und konfigurieren – dies sind die Technologien der sog. vierten industriellen Revolution.

Thinking-man
Photo: Ola Dapo

Optimierung von Wertschöpfungsprozessen

Der neue Rationalisierungstyp hat zwar wie seine Vorgänger auch die Automatisierung auf seiner Agenda, doch diesmal geht es nicht mehr um die Ersetzung körperlicher Arbeit und auch nicht um die Automatisierung einfacher geistiger Tätigkeiten. Im Visier steht die komplexe geistige Arbeit der Konstruktion, Planung, Steuerung, Koordination und Optimierung von Wertschöpfungsprozessen.

Die Revolutionäre von 4.0 stören sich an den Unbilden der wirklichen Welt der Wertschöpfung mit ihren Zufällen, Widrigkeiten, Widersprüchen, Störungen, Fehlern, Redundanzen, Umwegproduktionen. Sie peilen eine „weightless economy“ mit einem Höchstmaß an Transparenz, Flüssigkeit, Effizienz und Flexibilität an, eine „liquid factory“, in der die Spannungs- und Reibungsverhältnisse zwischen Markt- und Produktionsökonomie, zwischen Kunden, Herstellern und Lieferanten, zwischen  Vertrieb, Entwicklung, Einkauf und Produktion, zwischen Personalbestand und aktuellem Personalbedarf beseitigt sind und ein großer Flow das Unternehmen durchherrscht.

Ihr Angriffspunkt ist nicht mehr – um dies ganz deutlich zu sagen – eine gegebene Wertschöpfungsstufe, die man bis zum Exzess durch technische, arbeitsorganisatorische und leistungspolitische Maßnahme auszulutschen versucht, sondern das Dazwischen des gesamten Wertschöpfungsprozesses. Dort, zwischen den Wertschöpfungsstufen, vermuten sie die größten Reibungsverluste und damit auch die höchsten Effizienzreserven. Die Profitrate steigern durch die Senkung der Komplexitätskosten ist ihre Devise. Das digitale Unternehmen ist mithin in erster Linie ein riesiges logistisches Projekt. An Amazon kann man seine zukünftige Gestalt (und seine Auswüchse) heute schon studieren.

Der Zug rollt

Natürlich reden wir hier noch von Zukunftsmusik, an der die IT-Konzerne und ihre wissenschaftlichen Handlanger kräftig mitkomponieren. Sie versprechen uns das Blaue vom Himmel und sie gerieren sich auf unglaublich naive Weise als Menschheitsbeglücker und Weltverbesserer. Doch die technischen Bausteine für die neue industrielle Revolution sind alle da, werden weiter verfeinert und fortentwickelt.

Große Teile der Wirtschaft (noch nicht der Mittelstand) glauben den Verheißungen der 4.0-Gurus und investieren bereits ins Internet der Dinge. Und die Politik sieht darin eine Chance, die ohnehin schon starke Wettbewerbsposition der deutschen Industrie weiter zu verbessern. Also: der Zug rollt, auch wenn nicht klar ist, ob er jemals in der sich selbst steuernden vollautomatischen Fabrik bzw. im intelligenten Unternehmen ankommen wird.

Fünf Aspekte

Was bedeutet diese Entwicklung nun für die Beschäftigten und die „Welt der Arbeit“. Ich möchte auf fünf Aspekte hinweisen, wohl wissend, dass ich mich auf unsicheres Terrain begebe. Eine Prognose der Zukunft ist immer mit Risiken behaftet, zumal auch die Zukunft von 4.0 noch im Nebel liegt.

Dennoch gibt es einige Trends, die man durch das, was jetzt bereits geschieht, erhärten kann. Die fünf Dimensionen, auf denen sich die Effekte von 4.0 bemerkbar machen werden, sind das quantitative Volumen der Arbeit, ihre Qualität, ihre Kontrolle, ihr Ort und die Souveränität ihres Trägers.

Aspekt 1: Quantitatives Volumen

In Deutschland lautet die Standardantwort auf die Frage nach den Arbeitsplatzeffekten von technischen Neuerungen stets: Es fallen zwar Arbeitsplätze (die einfachen) weg, aber es werden auch wieder neue hochqualifizierte geschaffen. Und selbst wenn in der Industrie der Saldo negativ sein sollte, entstehen im Dienstleistungssektor genügend neue Stellen. (Über die Qualität solcher Stellen wird ebenso wenig geredet wie über den Umstand, dass zwar die Zahl der Beschäftigten steigt, aber mitnichten das Arbeitsvolumen.)

In Amerika ist man da pessimistischer und wohl auch realistischer. Dort rechnen verschiedene Forschergruppen damit, dass fast jeder zweite Arbeitsplatz der Digitalisierung der Wirtschaft zum Opfer fällt. Wie soll es auch anders sein, wenn das Ziel die vollautomatische intelligente Fabrik heißt? Die einzige Chance vor verheerenden Arbeitsplatzeinbußen besteht mithin darin, dass sie dieses Ziel nicht erreichen – und wenn doch, dann muss man die Arbeitszeit radikal kürzen.

Aspekt 2: Qualität

Ein ebensolcher Gemeinplatz wie die Arbeitsmarktbilanz von 4.0 ist die Vermutung, die Qualifikationsstruktur werde sich aufgrund von 4.0 polarisieren. Die Anforderung an die Überwachung und Steuerung der Prozesse würden höher, IT- und Produktionskompetenz würden zusammenwachsen (Facharbeiteringenieur), aber es würde auch Lückenbüßer der Automation geben, deren Handlungsspielraum zusammenschrumpfe.

Tatsächlich weiß man bisher nur, dass die Anzahl der Lückenbüßer hochgeschnellt ist, seit Arbeiten in die Cloud ausgelagert werden können. Digitale Tagelöhner und Arbeitsnomaden, sog. click-worker erledigen unter totaler Überwachung und mit minimaler Bezahlung die Arbeiten, die die künstliche Intelligenz nicht machen kann oder will. Auf Plattformen wie Mechanical Turk oder Freelancer begegnen sich Ausbeuter, die Aufträge anbieten und Ausgebeutete, die diese oft aus Existenznot erfüllen, ohne sich jemals kennenzulernen.

Über die Profiteure von 4.0 weiß man hingegen noch kaum etwas. Ihr Qualifikationsprofil hört sich schon wieder so an wie das einer eierlegenden Wollmilchsau: abstraktes Denken, Überblickswissen, Umgang mit Informationen, eigenständige Planung, Produktionsintelligenz, IT-Kompetenz. Wie stark ihre eigene Intelligenz in der smarten Fabrik, in der Werkstücke, Maschinen und Verfahren miteinander kommunizieren und ihren Weg durch die Fabrik selber finden, noch gefragt ist, bleibt eine offene Frage.

Aspekt 3: Kontrolle

Digitale Technik, wie sie sich entwickelt hat, ist eine Kontrolltechnik. Wer sie benutzt, wirft einen Datenschatten und liefert den Stoff, aus ihm einen digitalen Zwilling oder besser einen digitalen Zombie zu schaffen. In der smart Factory müssen, damit sie „intelligent“ wird, enorm viele Daten gesammelt und ausgewertet werden. Big Data interessiert sich natürlich nicht nur für Maschinenzustände oder die Lokalisierung eines Werkstücks, sondern gleichermaßen für die Menschen, die damit zu tun haben.

Sagen wir es einfach: So total sind Arbeitnehmer noch nie überwacht worden, wie es heute der Fall ist. (Es ist eine andere Frage, was man mit den Daten und Informationen über die Mitarbeiter macht.)

Sie, die Datensammler, Datenauswerter und Algorithmenbauer wissen alles, aber die Überwachten wissen nichts darüber, was da mit ihrem digitalen Abbild geschieht. Es ist eine Ironie, dass diese Kontrollwut und dieser Datenhunger zu einer Zeit stattfinden, in der die „indirekte Steuerung“ den Leuten eigentlich die Freiheit gibt, ihre Aufgaben selbständig zu lösen. Aber das ist wahrscheinlich der Preis, den man für eine Welt ohne Zufall – und darauf arbeitet 4.0 hin – zahlen muss.

Um auf Amazon zurückzukommen, dort ersetzt der Strichcode die Stechkarte, dort scannt man zuerst sich und dann die Ware ein. Steht der Mitarbeiter zu lange, dann löst das System Alarm aus und es kommt zum Feedback-Gespräch.

Bei IBM gibt es ein Programm LIQUID (!), das alle Mitarbeiter in einer zentralen Datenbank erfasst und an Hand von 12 Kriterien mit jeweils vier Ausprägungen mit „bluepoints“ bewertet. Die Hälfte unter ihnen, die mit den besseren Ergebnissen, fällt dann unter die Rubrik „blue selectors“ und die anderen unter die Rubrik „blue players.“ Wer „blue player“ ist, riskiert, vom festangestellten zum freien Mitarbeiter zu werden. Und wer „blue selector“ ist, wird Projektleiter, ist aber angehalten zu sparen und einen Teil der Arbeiten durch crowdsourcing erledigen zu lassen.

Im Stuttgarter Flughafen ist komplett die „gläserne Produktion“ durchgesetzt worden. Es wird mithilfe von Smartphone-Apps nur noch nach Bedarf und Arbeitsanfall geschafft. Zudem werden monatlich Berichte über die Produktivität jedes Mitarbeiters erstellt und Produktivitätsranglisten angelegt. Wer hinten rangiert, dem wird eine „negative Zukunft“ beschieden.

Die Beispiele lassen sich beliebig fortsetzen: Durch Big Data verwandelt sich der Betrieb in eine digitales Panoptikum, in eine Kontroll- und Transparenzgesellschaft, in der Freiheit und Kontrolle keinen Gegensatz mehr bilden, in der indirekte Steuerung und totale Überwachung ineinander gehen.

Aspekt 4: Ort

Den Neoliberalen ist der Betrieb als eine raumzeitliche Einheit seit jeher ein Ärgernis. Sie stehen gedanklich in der Interpretation des Marktes noch auf der Stufe der einfachen Warenproduktion. Betrieb, das ist für sie Einengung der ökonomischen Freiheit durch ein Regelwerk. Deshalb ihre Vorliebe für Deregulierung. Mit der Digitalisierung erhalten sie einen starken Bundesgenossen. Sie zielt ja nicht einfach auf das einzelne Unternehmen, sondern über den Betrieb hinaus auf die gesamte Wertschöpfungskette.

Für Spath, den früheren Fraunhofer-Chef, hat das Unternehmen als geschlossene Organisation überlebt. Im Zeitalter der Vernetzung lösen sich herkömmliche Betriebe mehr und mehr auf und immer mehr Arbeitsschritte werden durch crowdsourcing über geeignete Internetplattformen an Kleinselbständige und Mikrounternehmer in aller Welt vermittelt. So kann man heute bereits FuE-Arbeiten in immer kleinere Häppchen zerteilen und auf Plattformen ausschreiben.

Ebenso verschwindet der feste Arbeitsplatz und die Mitarbeiter steuern ihren Arbeitseinsatz über Smartphone nach Kundenbedarfen (Kapoflex-Systeme). Durch die Cloud, das crowdfunding und das crowdsourcing sind die Ingredienzien für den Bau virtueller Unternehmen da.

Für die Interessenvertretung ist diese Dekonstruktion des Betriebes fatal. Ihr interessenpolitischer Ansatz lebt von Beschäftigten, die da sind, die ansprechbar sind, die greifbar sind und die gemeinsam die Arbeit erleben, über sie kommunizieren und dadurch ihre Sache verhandeln. Eine ortlose Solidarität aufzubauen, ist fast unmöglich. Ebenso verlieren die Unternehmen durch ihre Delokalisierung ihre Identität, ihre Kultur, ihre Lebenswelt. Sie mutieren zu ‚seelenlosen Arbeitshäusern‘.

Aspekt 5: Souveränität

Es gehört zum Nimbus und Selbstverständnis der technischen Intelligenz, dass sie es ist, die die Maschine beherrscht: weil sie sie entwickelt und konstruiert hat, weil sie ihre Betriebsgeheimnisse kennt, weil sie ihre Funktionsweise theoretisch durchdringt und praktisch herzustellen weiß, weil sie die Deutungshoheit über Abweichungen, Störfälle und ihre ‚Macken‘ hat und weil sie über die Entscheidungsmacht im Falle von Unvorhergesehenem verfügt.

Ähnliches gilt für ihr Verhältnis zum Produktionsprozess insgesamt, also zu einem ganzen Maschinenensemble. Mit der Digitalisierung nimmt ihr nun aber die Maschine diese Souveränität weg. Sie ist so vollgestopft mit ‚Intelligenz‘, dass sie selber weiß, was sie zu tun hat, wann sie zu warten ist, wohin das bearbeitete Teil zu gehen hat, wann der Werkzeugwechsel zu geschehen hat etc. Sie gibt die Spur vor, auf der der Techniker/Ingenieur/Facharbeiter zu laufen hat – wenn man ihn denn überhaupt noch braucht.

Gewiss, es wird in der Eindeutigkeit nicht so kommen, die technischen Fachkräfte werden noch viel zu tun haben, das Drunter und Drüber der smarten Fabrik zu bewältigen. Aber 4.0 ist eine Ansage an sie, dass sie nicht mehr das Monopol auf die technische Intelligenz und die Entscheidungsautonomie von früher haben.

Werden sie Rädchen im Getriebe einer sich autonomisierenden Technologie oder erobern sie sich in dem veränderten technischen Setting einen neuen unverzichtbaren Platz?

Rationalität statt Intelligenz

Ich will zum Schluss noch ein paar grundsätzliche Überlegungen zu dem, was sich technisch gerade ereignet, anstellen. Dies ist nötig, weil in meinen Augen die KI von allen viel zu unkritisch betrachtet wird und ihren Ausgeburten seltsam kritiklos applaudiert wird.

Das zentrale Problem sehe ich darin, dass die KI sich mehr und mehr des Attributs „künstlich“ entledigt und suggeriert, ihr Intelligenzbegriff sei der einzig wahre. Damit werden die Verhältnisse komplett auf den Kopf gestellt und kaum einer merkt es.

Was Intelligenz ist, vermag kaum jemand zu erklären. Sie ist so kompliziert, dass wir wahrscheinlich zu dumm sind, sie akkurat zu beschreiben. Eines aber ist gewiss: ohne Erleben, ohne Gestimmtheit und Bewusstheit ist keine Intelligenz denkbar. Eine Maschine erlebt nicht, so viele Sensoren und Prozessoren man ihr auch einpflanzt. Also kann sie nicht intelligent im ursprünglichen Sinne sein. Was sie kann, ist rational sein, also in bestimmten Situationen rational nachvollziehbare Aussagen und Entscheidungen treffen. Das ist natürlich ein ganz unterkomplexes Konzept von Intelligenz, aber eines, das in rechenhaften Gebilden wie dem kapitalistischen Betrieb bedingt funktionieren kann – freilich auch nur, solange man den abstrakten Betrieb (kaufmännische IT) betrachtet, komplizierter wird es schon wieder beim konkreten Betrieb (technische IT).

Was die IT-Gurus und die Lautsprecher des KI-Diskurses geschafft haben, ist uns einzureden, dass ihr Begriff von Intelligenz von Intelligenz handle, während er doch nur Ratio meint. Es ist ein logozentrischer Intelligenzbegriff, der der Konstruktion von Maschinen zugrunde liegt.

Die Verkehrung ist, dass der Mensch die Maschine erfindet und danach die Idee entwickelt, er sei selber eine Maschine. Weil er aber nicht so glatt funktioniert wie eine Maschine, hält er sich für einen missratenen, dysfunktionalen PC, dem die Maschine, sprich der Algorithmus, auf die Beine helfen muss. Diese krasse Reduktion des Intelligenzbegriffs auf den Funktionsgedanken und den Solutionismus (Lösungszwang) passt wunderbar zum Kapitalismus und zur kulturellen Dominanz von Computer- und Ingenieurwissenschaften, von Hirnforschung, Bio-  und Kognitionswissenschaft.

Wir sollten diese Überwältigung, die hier geschieht, uns nicht so einfach gefallen lassen, wie wir es im Moment tun. Es reichen dazu schon relativ einfache Einsprüche: So z.B die Erinnerung an das Gödelsche Gesetz, dass jedes hinreichend mächtige formale System entweder widersprüchlich oder unvollständig ist. Dies gilt selbstredend auch für den Algorithmus, der beansprucht, dass seine genau definierte Handlungsvorschrift zur Lösung eines Problems in endlichen Schritten vollständig sei. Man möchte gar nicht wissen, für wie viele Katastrophen der Algorithmus die Verantwortung trägt.

Tatsächlich ist der Algorithmus nur in seiner Unterkomplexität effektiv: dann nämlich, wenn er auf die Optimierung eines Parameters ausgerichtet ist wie etwa auf die Maximierung der Profite. Wenn dabei aber auch noch Interessen wie individuelle Freiheit oder soziale Gerechtigkeit zu berücksichtigen sind, dann muss man mit seinem Totalversagen rechnen.

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Der Text wurde 2016 als Vortrag auf einer Veranstaltung von ver.di gehalten.

Zum Autor: Josef Reindl ist Sozialwissenschaftler und Mitglied des COGITO Instituts, Köln und im Beirat der kloß UnternehmenGesundFühren, Berlin.

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