Schöne neue digitale Welt – Autonomie und/oder Kontrolle
I. Digitalisierung
Glaubt man dem politischen, ökonomischen, medialen und in Teilen auch wissenschaftlichen Diskurs, dann bricht derzeit und demnächst noch viel mehr die Digitalisierung wie eine Naturgewalt über uns herein. Angela Merkel droht, „was immer digitalisiert werden kann, wird digitalisiert werden“, 93mal schaffte es das Substantiv Digitalisierung in den Koalitionsvertrag, 148mal gar das Adjektiv digital. Nun ist Digitalisierung eigentlich ein technischer Begriff, der die Umwandlung analoger Größen in digitale Repräsentationen bezeichnet, ein Prozess, der über die Stationen Semiotisierung, Formalisierung und Algorithmisierung verläuft.
Es ist kaum anzunehmen, dass unsere Politiker, aber auch Wirtschaftsbosse und Medienleute, die Gesellschaft in ein Technikseminar schicken wollen. Sie meinen etwas anderes, wenn sie von Digitalisierung sprechen.
Sie sprechen nicht von einer Praxis, über deren Sinn und Form man sich streiten kann und soll, nicht davon, wie man diese Technik sinnvoll einsetzen kann, sondern von einer mystischen historischen Kraft, vor deren Unausweichlichkeit man schon kapituliert hat.
Da ist viel magisches Denken im Spiel. Die Geisteshaltung, die hinter dem Digitalisierungsdiskurs steht, ist der Solutionismus: die Annahme, man könne alle Probleme mit dem richtigen Programm lösen ohne die mühsame Abwägung von Interessen oder eine öffentliche Verständigung über gemeinsame Ziele. Und die Ideologie, die über den Bites und Bytes schwebt, ist ein kalifornische: die Paarung des Idealismus der Hippies mit dem Fortschrittsglauben der Computerentwickler, woraus der tiefreichende Glaube an das emanzipatorische Potential der Informationstechnologien entsteht. Darüber gerät leicht in Vergessenheit, dass die Militärforschung, die Rüstungsindustrie und der Staat die wichtigsten Geburtshelfer der IT und des Internet waren. Sie sitzen auch heute noch im Silicon Valley zusammen.
II. Künstliche Intelligenz
Ein anderes Buzzword des herrschenden Technologiediskurses, das leicht in das Reich der Magie hinüberführt, ist die Künstliche Intelligenz.
Sie stellt den Versuch dar, eine menschenähnliche Intelligenz nachzubilden, d.h. einen Computer so zu bauen oder zu programmieren, dass er eigenständig Probleme lösen kann. Deshalb das Adjektiv künstlich, was ja heißt nicht wirklich.
Leider wird dies gerne vergessen und mit KI suggeriert, hier entstehe tatsächlich eine vom Menschen abgelöste autonome Intelligenz, die die menschliche Intelligenz irgendwann überbiete. Entsprechende Hoffnungen und Befürchtungen heften sich an diese Entwicklung.
Wie daneben eine solche Ermächtigung der Technik ist, sagt ausgerechnet Deutschlands KI-Pionier Chris Boos: „Auch die intelligenteste Maschine versteht nichts. Der Computer kann nicht denken, man kann mit ihm Denkprozesse nachbilden“.
Wenn wir uns die Denkpyramide als ein fünfstufiges System vorstellen, in dem ganz unten die Daten sind, dann durch Verbindung der Daten Informationen und durch ihre Kontextualisierung Wissen entsteht, das anzuwenden Intelligenz erfordert, dann kann der Computer dies in der Tat alles.
Er kann es, weil bildlich gesprochen in seinem Inneren ein Mensch steckt, der ihn das gelehrt hat bzw. einen Algorithmus entwickelt hat, den er penibel befolgt und abarbeitet. Ja, durch die KI kann er sogar noch mehr, er kann lernen. Er durchforstet Daten nach Zusammenhängen und Mustern und er probiert, das Gefundene oder Gelernte auf neue Strukturen zu übertragen.
Freilich hat ihm auch dieses maschinelle Lernen oder Deep Learning der Mensch beigebracht. Was er allerdings nicht kann – und dies ist die fünfte Stufe der Denkpyramide – ist die Reflexion über sein Tun, über das Warum, die Ursachen und Gründe. Und erst hier kann man von wirklicher Intelligenz sprechen.
Also noch einmal: Maschinen und auch Geistmaschinen wie der Computer können nicht denken, sie können nichts begreifen, also auch nicht intelligent sein, aber sie können Denkfunktionen übernehmen, die wir auslagern. Es sind reduzierte Denkfunktionen, die die Maschinen besser können als wir, z.B. das Rechnen. Man kann es am Internet zeigen: Das Internet ist nicht intelligenter als der alte Aktenordner, nur unglaublich effizienter.
Was uns Menschen von den intelligentesten Maschinen unterscheidet, kann Goethes „Zauberlehrling“ verdeutlichen. In der Ballade programmiert ein Zauberlehrling einen Besen, der die Aufgabe übernehmen soll, den Boden zu wischen. Dazu holt er Wasser aus einem Fluss und füllt es dann in ein Becken. Allerdings füllt er es so lange auf, bis das Becken überläuft und er hört auch dann nicht auf.
Im Programm ist keine Anweisung enthalten, aufzuhören, sobald das Becken gefüllt ist. Der Besen folgt unbeirrt seinem Programm, lässt sich von nichts abbringen, ist er doch vom Zauberlehrling einzig dazu gemacht, Wasser ins Becken zu füllen, egal ob dies überläuft. Er kennt keine Kollateralschäden, da die nicht programmiert wurden, er lässt sich auch nicht zerstören. All das setzt kein Bewusstsein und keine Intelligenz des Besens voraus.
Er ist genau deshalb so gefährlich, weil er genau auf eine von Menschen gesetzte Problemlösung zugeschnitten ist. Menschen aber können sich gegenseitig von selbstgesetzten Zielsetzungen abbringen, weil wir nicht nur stur Regeln folgen, sondern weil unsere Intelligenz zutiefst biologisch verankert ist. Diese Verankerung können wir gar nicht vollständig rekonstruieren und berechnen. Wir sind als geistige Lebewesen genau deshalb frei, weil es keinen universalen Algorithmus gibt, dem unser Denken Folge leistet. Anders die Computer: Mögen sie noch so smart sein, sie sind unsere Artefakte, die unseren Zwecksetzungen Folge leisten, mag die Science Fiction auch noch so viele HAL’s hervorbringen.
III. Autonomie und Animismus
Lassen Sie mich, ehe ich zum Kern meiner Ausführungen komme, nach Digitalisierung und KI noch einen dritten Begriff, der in diesem Diskurs herumgeistert, problematisieren, nämlich den der Autonomie.
Das große Versprechen oder – wie man es nimmt – die große Bedrohung der Digitalisierung oder von Industrie 4.0 ist ja, dass die Maschinen durch selbstlernende Systeme die Wertschöpfungsprozesse autonom steuern und regeln und die Qualität der Erzeugnisse sichern. Davon sind wir zwar noch weit entfernt – die wissenschaftliche Gesellschaft für Produktionstechnik, in der die Creme der Ingenieurwissenschaften sitzt, rechnet damit, dass dieses finale Stadium 2050 erreicht wird -, doch diese Vision einer autonomen Technik leitet die Forschung und in Teilen auch die Praxis an.
Nun ist der Autonomiebegriff zunächst einmal ein zutiefst philosophischer Begriff. Er kennzeichnet eine selbstgewählte und gesetzte, vom eigenen Willen und der eigenen Vernunft bestimmte Lebensweise, die ihren Wert in sich selbst hat.
Die berühmte Definition von Kant lautet: „Autonomie des Willens ist die Beschaffenheit des Willens, dadurch derselbe ihm selbst (unabhängig von aller Beschaffenheit der Gegenstände des Wollens) ein Gesetz ist. Das Prinzip der Autonomie ist also: nicht anders zu wählen, als so, dass die Maximen seiner Wahl in demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz mit begriffen.“
Kant bestimmt Autonomie einerseits als freien Willensakt und andererseits als eine Wahl, die die Gesellschaft – den Anderen – mit berücksichtigt. In seinem Autonomiebegriff ist schon das allgemeine Sittengesetz enthalten. Es mutet von daher äußerst seltsam an, dass sich dieser Begriff in einem Technikdiskurs wieder findet. Denn Maschinen können weder einen Zweck in sich – eine causa finalis – tragen noch in freier Entscheidung etwas durchführen, also auch keine Verantwortung übernehmen geschweige denn über die Folgen ihrer Entscheidungen reflektieren oder Anderes und Andere mitdenken.
Was hier bei dieser Begriffsverwendung am Werk ist, ist der sog. Animismus. Wir Menschen beleben die Maschinen und projizieren unser Denkvermögen auf von uns geschaffene Artefakte. Ich belasse es bei dieser Feststellung und frage nicht nach den Ursachen dieser Verkehrung, das würde zu weit führen bis hin zum Fetischcharaker der Ware im Kapital und zum Maschinenkapitel in den Grundrissen. Nur so viel: aus dieser Verkehrung rühren die großen Utopien und Dystopien im Technikdiskurs, etwa die Angst vor durch die Digitalisierung hervorgerufener Massenarbeitslosigkeit oder die vor dem Big Brother sowie die Hoffnung, dass die Technik Wunderdinge vollbringen könne wie den Sieg gegen den Krebs oder andere bisher als unheilbar geltende Krankheiten.
IV. Substanz
Nach diesem Versuch der Entzauberung der Digitalisierung will ich erläutern, worin ich ihre Substanz sehe. Sie ist zwar keine Wundertüte, aber auch kein Phantasma. Es gibt Gründe, warum alle Welt davon spricht.
Ich komme auf den schon einmal zitierten Chris Boos zurück. Er sagt: „Die smarte Technik ist die Antwort der Programmierer auf McKinsey“. Was kann er damit meinen?
Nun, Mc Kinsey dürfte ja kein Unbekannter sein, die Firma steht für Rationalisierung, scharfe Kostensenkungsprogramme, Business Reengineering, also für all das, was aus einem Unternehmen eine kapitalistische Veranstaltung macht. Dies ist die kritische Lesart.
Man kann es aber auch neutraler sehen, dann bearbeitet Mac Kinsey die zahlreichen Widersprüche, die in Unternehmen in einer Marktwirtschaft zutage treten: den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Flexibilisierung und Standardisierung, zwischen Produktions- und Marktökonomie, zwischen Kosten und Qualität undundund.
Die Widersprüche ergeben sich aus den Strukturgesetzlichkeiten einer kapitalistischen Ökonomie, sie haben mit Technik erst einmal gar nichts zu tun. Wie will jetzt die Technik einen Beitrag zur Lösung dieser Widersprüche leisten?
V. Indirekten Steuerung
An dieser Stelle muss ich etwas ausholen und kurz beschreiben, welch elementarer Wandel sich seit einiger Zeit in der Führung und Steuerung der Unternehmen vollzieht.
Was sich in den letzten Jahren u.a. aufgrund der Leistungen der Informationstechnologie bereits herausgebildet hat bzw. was sich aktuell noch weiter herausbildet, ist ein neues Produktionsregime. Seine Kennzeichen sind Käufermärkte, eine durch die Globalisierung ausgelöste heftige Konkurrenz zwischen den Unternehmen, die Dislozierung der Produktion (Stichworte: Outsourcing und Just in Time), die Entstehung weit verzweigter Wertschöpfungsketten und fast unüberschaubarer Produktionsnetzwerke.
Seine gravierendsten Konsequenzen für die Firmen sind die Abforderung einer brutalen Flexibilität und die Aufkündigung der Produktionsökonomie.
Unter Produktionsökonomie verstehe ich den Versuch, den Kostpreis des Produkts durch eine rationelle Gestaltung der Produktion (Automatisierung, Fließfertigung, Arbeitsteilung, Hierarchie), eine rationelle Einsteuerung der Aufträge (Bündelung von gleichartigen Aufträgen, Zwischenläger etc.), eine gleichmäßige Auslastung der Produktion und entsprechende Anreizsysteme (Akkord, Prämie) zu verringern.
Diese Art der Produktionsökonomie funktioniert heute nicht mehr, heute herrscht die Marktökonomie.
Heute ist es wichtiger, schnell als billig zu sein, wenngleich auch Letzteres weiterhin eine Rolle spielt. Und mindestens ebenso wichtig ist es, sofort und unverzüglich auf die Launen und Sonderwünsche des Kunden zu reagieren.
In einer solch angespannten und pufferlosen Produktion ist jeder Maschinenstillstand, jeder Materialengpass, jedes Fehlteil, jeder Personalausfall eine mittlere Katastrophe. Es herrscht gewissermaßen der dauernde Ausnahmezustand.
Weil eine solch unruhige und zerstreute Produktion nicht mehr mit den klassischen Instrumentarien des Organisierens zu bewältigen ist, weil man einen solchen Produktionsorganismus nicht mehr von einer Zentrale aus dirigieren und kommandieren kann, deshalb haben die Unternehmen umgesteuert und dezentralisiert, enthierarchisiert, kanbanisiert, vermarktlicht und flexibilisiert.
In unserer Begrifflichkeit sind sie von der direkten zu indirekten Steuerung übergegangen, zu einer Steuerung nicht mehr über Anordnungen und Anweisungen, sondern über Ziele und die Setzung von Rahmenbedingungen, auf die die Beschäftigten selbständig reagieren sollen. Sie sollen Unternehmer im Unternehmen werden, also nicht mehr nur eine Aufgabe erfüllen, sondern den Unternehmenserfolg in gleicher Intensität anstreben wie der Unternehmer und sein Management.
Es liegt auf der Hand, dass diese Umcodierung des Arbeitnehmers in einen Unternehmer eine friktionsreiche Angelegenheit ist, nicht etwa weil dem Arbeitnehmer der Erfolg des Unternehmens gleichgültig ist, sondern weil ihm häufig die Ressourcen und eigentlich immer der Einfluss auf die Ziele des Unternehmens fehlen. Es ist also trotz dieser organisatorischen Revolution in den Unternehmen weiter Sand im Getriebe.
Industrie 4.0 bzw. die Digitalisierung ist das Versprechen, mit technischen Mitteln die Reibungsverluste im Produktionsprozess zu minimieren bzw. ganz zu beseitigen und die ‚liquid factory‘ zu verwirklichen: durch eine Echtzeitsteuerung, durch die völlige Transparenz der Produktion, durch flexible Automatisierung, durch one piece flow, durch predictive maintanance, durch kollaborative Mensch-Roboter-Systeme.
Wenn sich die Aufträge selber durch die Fabrik steuern, die Maschinen und Werkstücke kommunizieren, die anfallenden Daten zum Sprechen gebracht werden und Handlungen auslösen, dann scheint der alte Widerspruch zwischen Markt- und Produktionsökonomie aufgelöst und der von Bill Gates prophezeite ‚reibungslose Kapitalismus‘ nahe. Zur ‚Autonomie der Produzenten‘ käme dann entweder die ‚Autonomie der Technik‘ hinzu oder die ‚Autonomie der Technik‘ macht die ‚Autonomie der Produzenten‘ hinfällig.
VI. Dialektik
Was ich Ihnen eben skizziert habe, ist Wunschdenken.
Ich will die Möglichkeiten der Digitalisierung nicht kleinreden, aber daran erinnern, dass die technischen Potentiale das eine sind, ihre Umsetzung das andere. Und hierbei spielt das betriebswirtschaftliche Kalkül eine große Rolle.
Wenn Routinearbeit billiger ist als ein kollaborativer Roboter, dann bleibt die Routinearbeit. Wenn die Systeme der vorbeugenden Instandhaltung große Investitionen verursachen, dann bleibt es bei der analogen reaktiven Instandhaltung. Und wenn die Auswertung des riesigen Datenberges (BIG DATA) zu viele Kräfte bindet, dann bleiben die Daten halt dumm.
Was im öffentlichen Diskurs oft als Digitalisierungsrückstand – meistens – des Mittelstands kritisiert wird, ist vielleicht rationaler als das Einpeitschen von Digitalisierungsillusionen. Wichtiger in der Bewertung der Digitalisierung als neuer Organisator ist ein anderer Einwand, den ich vorher schon angeschnitten habe:
Die intelligenten Maschinen beherrschen die Dialektik nicht.
Sie bilden die Wirklichkeit nur ab, verdoppeln sie, aber sie können nicht mit Widersprüchen umgehen, sie kennen nur die binäre Logik, tertium non datur. Und Organisieren im Betrieb ist in erster Linie die Bearbeitung von Widersprüchen, das Umgehen mit Unvorhersehbaren, der Ausgleich von Interessen, die Balance zwischen Zeit, Kosten und Qualität (das Magische Dreieck), alles Dinge, die im künstlich-intellektuellen Horizont der Computer nicht vorkommen.
Vor allem von einer Illusion sollte man sich gründlich verabschieden, die manche Arbeitsschützer und Gesundheitsmanager gern vor sich hertragen: Automatisiert und digitalisiert wird nicht, um den Menschen das Leben zu erleichtern.
Der genuine Technikbegriff, demzufolge Technik die Anstrengung ist, Anstrengungen zu ersparen, greift hier nicht. Wie auch, das Leben erleichtern können nur Menschen, nämlich die, die die digitalen Mittel besitzen und anwenden. Ich habe bisher noch nicht gehört, dass die Humanisierung des Arbeitslebens und die Entdichtung der Arbeit wichtige oder überhaupt Motive für die Investitionen in die digitale Technik wären.
VII. Digitalisierung als Katalysator
Vermutlich glauben nicht einmal die Verfechter einer aggressiven Digitalisierung an die Organisationskompetenz der smarten Technik.
Es ist augenfällig, dass in allen Abhandlungen über Digitalisierung die Begriffe Agilisierung, Disruption, lean etc. auftauchen. Sie entstammen einem anderen Diskurs, nämlich dem über Innovation und Akzeleration, der ein organisationstheoretischer und betriebswirtschaftlicher ist.
Er liefert die Begriffe für das, was wir indirekte Steuerung nennen. Fast scheint es so, als solle die Digitalisierung der Katalysator für die Durchsetzung dieses Organisationsprinzips sein.
VIII. Neue Organisationswelt
Schöne neue digitale Welt – ich komme auf den Titel meines Vortrags zurück. Ja, es gibt eine neue Organisationswelt in den Unternehmen, die durch die Digitalisierung noch an Realitätsmacht gewinnen wird. Aber es gibt keine neue digitale Welt.
Weder wird der Orwell’sche Albtraum wahr noch die Vision der smarten Fabrik, geschweige denn die viel bemühte Disruption. Disruption würde ja den Bruch mit alten Mustern bedeuten, also mit dem ‚immer schneller, immer mehr‘, dem Akkumulations- und Akzelerationszwang. Die Promotoren der Digitalisierung können sich die Zukunft aber nur als Hochrechnung der herrschenden Verhältnisse vorstellen, als beste aller bisher erprobten Praktiken.
Den Apokalyptikern, die die totale Kontrolle am Horizont heraufziehen sehen, muss man entgegenhalten, dass sie die Zielrichtung des digitalen Rationalisierungsansatzes nicht verstanden haben. Es geht nicht um Kontrolle des einzelnen, um ihn umso besser beherrschen und ausnutzen zu können, sondern um Transparenz über Wertschöpfungsprozesse und -ketten, um flüssiger produzieren und besser kalkulieren zu können.
Es geht um Vernetzung, um das Dazwischen des Wertschöpfungsprozesses und nicht mehr um das Auslutschen einer einzelnen Produktionsstufe.
Die Unternehmen haben selber die Produktion so verzweigt und labilisiert, dass zwischen den Wertschöpfungsstufen die größten Reibungsverluste und die meiste Verschwendung anfallen. Diese Komplexitätskosten zu reduzieren ist ihnen wichtiger, als an der Produktivität des einzelnen Arbeitsplatzes zu feilen.
Von daher kann man die Digitalisierung auch als riesiges logistisches Projekt charakterisieren. Leider wird auch aus der positiven Vision, der smarten Fabrik, nichts werden, denn sie beißt sich mit den Unwägbarkeiten des Kapitalverwertungsprozess – der ‚Herrschaft des Zufalls‘ – sowie der Unfähigkeit der smarten Technologie, sich selbst zu reflektieren und zu korrigieren.
IX. Mehrarbeit
Dennoch wird sich aufgrund der Digitalisierung einiges ändern, das gravierende Auswirkungen auf das Belastungserleben der Beschäftigten hat.
Schlägt ein Unternehmen den Kurs einer konsequenten Digitalisierung ein, dann kommt vor allen Dingen mehr Arbeit auf die Beschäftigten zu – nicht im Sinne von mehr produktiver Arbeit, sondern im Sinne von Arbeit, die nötig ist, um im Unternehmen überhaupt die Voraussetzungen für die Digitalisierung zu schaffen. Denn die Digitalisierung kann nur gelingen, wenn ich im Vorfeld die soziale Praxis modelliere.
Der Computer ist vom realen Chaos der Welt vollkommen überfordert, er läuft nur zu seiner vollen Form auf, wenn die Welt ihm als geordnetes Modell vorliegt. Dafür bedarf es der Daten, die der Beschäftigte durch vermehrte Dokumentation dessen, was er tut, herbeischaffen muss und dafür bedarf es der Zerlegung des opaken Arbeitsvorgangs in Prozesse, in eine Abfolge von Schritten, die gegangen werden müssen.
Die Prozessmanie, die allerorten in den Betrieben beklagt wird, sowie das Überhandnehmen der Bürokratie in der Arbeit, an der die Beschäftigten leiden, haben genuin mit dem Digitalisierungsprojekt zu tun. Doch damit ist es nicht getan. Mit der digitalen Technologie kaufen sich die Unternehmer eine Black Box und das Zauberlehrlingssydrom ein.
Die Transparenztechnologie ist nämlich in sich alles andere als transparent und sie beginnt, tatsächlich ein Eigenleben zu führen, wenn man nicht von vorneherein gestaltend eingreift. Die Geschichte der Informatisierung ist, wie jeder am eigen Leibe erlebt hat, eine Geschichte von Pleiten, Pech und Pannen, die zu beheben jede Menge Mehrarbeit von den Beschäftigten erfordert.
X. Selbstgefährdung
Ich habe es schon erwähnt, ich befürchte zumindest im Herzen der deutschen Industrie keine Verschärfung oder Ausweitung der Kontrolle des einzelnen Arbeitnehmers, also keine Amazonisierung. Dagegen stehen Betriebsräte, die beim Datenschutz sehr gallig werden können, dagegen steht aber auch der aktuelle Rationalisierungsansatz in den Unternehmen, den ich geschildert habe.
Unbesehen davon aber wird das Gefühl, völlig unter Kontrolle zu sein, anwachsen, was bei nicht wenigen psychischen Stress auslösen wird.
Einerseits werden die Beschäftigten durch die indirekte Steuerung in die unternehmerische Freiheit, also eine bedingte Freiheit, entlassen. Sie werden angerufen, selbstverantwortlich die Unternehmensziele zu verfolgen, von sich aus das Nötige zu tun.
Andererseits steht ihnen in Gestalt der digitalen Technik eine mächtige potentielle panoptische Kontrollmacht gegenüber, die – käme sie zum Einsatz – ihre Freiheit ad absurdum führen würde.
Es ist jetzt schon so, dass die größte Gefährdung im Arbeitsleben von den Beschäftigten selber kommt, die um die Ziele zu erreichen ihre Gesundheit aufs Spiel setzen.
Wie wird es erst sein, wenn die Wege der Zielverfolgung und der Fortschritt dabei jederzeit und in Echtzeit überall abrufbar und transparent sind? Ein Double Bind und die Zunahme der Selbstgefährdung werden das Belastungssyndrom des digitalen Zeitalters sein.
Zum Autor: Josef Reindl ist Sozialwissenschaftler und Mitglied des COGITO Instituts, Köln und im Beirat der kloß UnternehmenGesundFühren, Berlin.